Erwin Breitenbach
Neuropsychologische Diagnostik bei lese-rechtschreibschwachen Kindern
1 Einleitung
2 Neuropsychologische Diagnostik als Förderdiagnostik
3 Untersuchen bedeutsamer Teilfunktionen
3.1 Theorie von Luria
3.2 Funktionelles System zum Schriftspracherwerb
3.3 Qualitative Analyse psychometrischer Verfahren
4 Variation der Aufgabenstellung
4.1 Theorie von WYGOTSKI
4.2 Allgemeine Hinweise
4.3 Spezifisches Beispiel
5 Zusammenfassung
- Einleitung
Die Neuropsychologische Diagnostik als anwendungsbezogener Teilbereich der Neuropsychologie, wird meist dann veranlasst, wenn eine zerebrale Schädigung neurologisch nachgewiesen wurde oder ein Verdacht darauf besteht. Neurologische und neuropsychologische Untersuchungsmethoden ergänzen sich oder, genauer formuliert, meist werden neurologische Untersuchungen im Rahmen der neuropsychologischen Diagnostik mit psychologischen Methoden fortgesetzt. Ziel der neuropsychologischen Diagnostik ist es, Leistungsminderungen im Zusammenhang mit hirnorganischen Beeinträchtigungen zu überprüfen. Mit Hilfe differenzierter Testverfahren werden einzelne Funktionsbereiche (sprachliche Kommunikation, Handlungsplanung, Wahrnehmung, Gedächtnis, usw.) untersucht, die bestimmten Hirnarealen zuzuordnen sind. Für das Kindesalter haben solche Zusammenhänge von Gehirn und Verhalten jedoch nur eine begrenzte Bedeutung, da es sich selten um umschriebene Störungen handelt und zusätzlich fortlaufende entwicklungsbedingte hirnorganische Veränderungen zu berücksichtigen sind. Dennoch hat auch die neuropsychologische Diagnostik im Kindes- und Jugendalter die Aufgabe und Möglichkeit, Stärken und Schwächen deutlich zu machen, um damit einerseits Hinweise für spezifische therapeutische Ansätze zu liefern und andererseits Prognosen über zukünftige schulische und berufliche Möglichkeiten zu erstellen.
- Neuropsychologische Diagnostik als Förderdiagnostik
Für die sonderpädagogische Praxis lassen sich derzeit in unserer Gesellschaft vier klar voneinander unterscheidbare diagnostische Fragestellungen ausmachen: die deskriptive Diagnostik, die Selektionsdiagnostik, die Integrationsdiagnostik sowie die Förderdiagnostik.
Eine sich ständig stellende Aufgabe in unserer Gesellschaft ist die Verteilung vorhandener Ressourcen. Dazu müssen Kriterien geschaffen werden, anhand derer die Zuteilung vorgenommen werden kann. Im Bereich der Sonderpädagogik ist es aus diesem Grund notwendig, Behinderungen oder Verhaltens- und Lernstörungen möglichst exakt zu beschreiben, um die Verteilung sonderpädagogischer Ressourcen wie zum Beispiel zusätzliche Förderung und Therapie, zusätzliche Lehrerstunden usw. vornehmen zu können. Im Rahmen einer deskriptiven Diagnostik wird festgestellt, ob ein Kind einer solchen Kategorie (Geistige Behinderung, Lese-Rechtschreibschwäche, ...) zugeordnet werden kann, was dann seinen Anspruch auf die Zuweisung entsprechender Ressourcen rechtfertigen würde.
In einem mehrgliedrigen Schul- und Bildungssystem stellt sich zwangsläufig die Frage nach der Zuweisung und Selektion. Unterschiedliche Schultypen und unterschiedliche Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen stellen unterschiedliche Anforderungen an Kinder und Jugendliche. Die Selektionsdiagnostik überprüft, inwieweit Fähigkeiten und Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen diesen Anforderungsprofilen entsprechen und liefert somit Hilfen bei Fragen nach der geeigneten Schullaufbahn oder Berufswahl.
Durch das Ziel der Integration von Menschen mit Behinderungen in unsere Gesellschaft werden Fragen nach Integrationsmöglichkeiten und nach zu schaffenden Bedingungen für diese Integration gestellt. Die Integrationsdiagnostik analysiert nicht problematische Verhaltensweisen oder Lernsituationen mit der Absicht, Förderstrategien und Lernhilfen zu entwickeln, sondern geht der Frage nach, inwieweit ein Mensch mit einer bestehenden, nicht veränderbaren Behinderung am gesellschaftlichen Leben in größtmöglichem Umfang teilhaben kann.
Lern- und Entwicklungsprozesse sind gekennzeichnet durch das Überwinden von Lernhemmungen, Lernhindernissen unterschiedlichster Art. Zur Analyse solcher Lernbehinderungen und zum Auffinden geeigneter Hilfen und Fördermaßnahmen bedarf es der Förderdiagnostik. Die hier vorzustellende neuropsychologische Diagnostik ist als reine Förderdiagnostik zu verstehen. Es gilt individuelle Stärken und Schwächen eines Kindes aufzudecken, um herauszufinden, unter welchen Lernbedingungen und mit welchen Lernhilfen die nächsten Entwicklungs- und Lernschritte zu realisieren sind.
Wie der Begriff Förderdiagnostik schon nahelegt, bilden Diagnostik und Förderung hier eine untrennbare Einheit in einem fortschreitenden Entwicklungs- und Lernprozess. Es werden Daten und Fakten erhoben, die in einem unmittelbaren Zusammenhang zu pädagogischen Interventionen stehen.
Im folgenden soll nun dieser förderdiagnostische Prozess näher beschrieben werden: Aus seinem didaktischen Wissen heraus macht ein Lehrender einem Kind oder Jugendlichen ein Lehrangebot, um ein bestimmtes Lernziel zu erreichen. Er weiß zum Beispiel, wie Kinder normalerweise das Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen und gestaltet entsprechend sein Lehren. Trifft er mit seinem Angebot beim Lernenden auf Lernbereitschaft und Lernmotivation, so wird das Kind sich auf sein Lehrangebot einlassen. An verschiedenen Stellen des Lehr-Lernprozesses können jedoch beim Lernenden aus den unterschiedlichsten Gründen Lernschwierigkeiten, Lernhemmungen auftreten, die das Kind alleine nicht überwinden kann. Der Lehrende ist nun gezwungen, den Lehr-Lernprozess an dieser Stelle zu analysieren, um zu verstehen und um aus diesem Verstehen heraus dem Lernenden Hilfen zur Überwindung seiner Lernhemmungen anbieten zu können. Es entsteht für den Lehrenden damit eine spezifische diagnostische Fragestellung.
Der Lehrende besitzt einerseits ein allgemeines Wissen über Lehren und Lernen, über den Verlauf einzelner Erwerbsprozesse und über Lernhindernisse sowie andererseits auch bereits ein bestimmtes Wissen über den Lernenden und dessen individuelle Lernbedingungen. Auf dieser Wissensbasis entwickelt der Lehrende erste Hypothesen über mögliche Gründe und Bedingungen für das Entstehen der Lernhemmung beim Lernenden. So kann zum Beispiel ein Lehrer, dessen Schüler übermäßig viele Rechtschreibfehler im Diktat unterlaufen, die Vermutung haben, diese große Fehlerzahl hänge mit einer mangelnden Kenntnis der Rechtschreibregeln, mit einer zu gering entwickelten auditiven Gliederungsfähigkeit oder auch mit einer zu geringen Merkfähigkeit für sprachliches Material zusammen.
Im nächsten Schritt wird der Lehrend versuchen, seine Hypothesen zu überprüfen, indem er geeignete diagnostische Verfahren auswählt und sie durchführt. So könnte der Lehrer in obigem Fall die Rechtschreibfehler seines Schülers systematisch nach einzelnen Kategorien ordnen und auf diese Weise sehen, ob dieser Schüler im Laufe eines Diktates tatsächlich gehäuft gegen einzelne Rechtschreibregeln verstößt oder in welchem Ausmaß ihm typische Fehler unterlaufen, die auf mangelhafte auditive Verarbeitung hinweisen.
Bestätigen die diagnostischen Informationen die Vermutungen des Lehrenden nicht, findet der Lehrer in unserem Beispiel keine Hinweise auf eine mangelnde Regelkenntnis oder die angenommenen Schwächen in der auditiven Informationsverarbeitung, muss er neue Hypothesen über den möglichen Bedingungshintergrund suchen und diese dann wiederum überprüfen. Besagter Lehrer wird vielleicht nun Vermutungen darüber anstellen, ob die Lernsituation in seiner Klasse für den betreffenden Schüler ungünstig ist. Schenkt er ihm genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung? Traut er ihm unter Umständen zu wenig zu und gibt vorschnell Unterstützung, sodass der Schüler zu selten Lernerfolge erlebt, die er sich selbst und seinem Können zuschreiben kann? Mit Hilfe einer gezielten Unterrichtsbeobachtung durch einen Kollegen oder eine Kollegin könnte der Lehrer beispielsweise versuchen, diese Hypothesen zu überprüfen um so zu einem veränderten Lehrangebot zu kommen.
Erhärtet sich jedoch der ursprüngliche Verdacht über den Bedingungshintergrund der Lernhemmung, wird der Lehrende auf dieser Basis Hypothesen über nächste Entwicklungsschritte und entsprechende Fördermaßnahmen entwerfen. Er wird sich überlegen, in welchen weiteren Lernschritten und mit welchem neuen Lehrangebot er seinem Schüler beim Überwinden der vorhandenen Lernhemmung helfen kann.
Setzt er sein neues Lehrangebot in die Tat um, kann er beobachten, inwieweit der Schüler auf dieses Angebot zugreift und damit seine Lernhemmungen überwindet und zum Beispiel im Prozess des Schreibenlernens fortschreitet. Der Lehrende erfährt auf diese Weise, ob seine Hypothesen, das neue Lehrangebot betreffend, erfolgreich und damit richtig waren. Gleichzeitig beinhaltet diese Erfahrung eine Reihe neuer diagnostischer Informationen über das Lernen des Schülers, die er bei der weiteren Gestaltung seines Lehrangebotes, beim Festlegen nächster Entwicklungs- und Lernschritte sowie bei der Auswahl neuer Hilfen berücksichtigen wird. Es kann jedoch auch der Fall eintreten, dass sich im Rahmen des neuen Lehr- und Förderangebotes neue Lernhemmungen einstellen, die ihrerseits wieder einer Analyse bedürfen.

Abb. 1 Darstellung des förderdiagnostischen Prozesses
Förderdiagnostik wird verstanden als ein Prozess, in dem fortlaufend Hypothesen aufgestellt und überprüft werden. Zunächst beziehen diese sich auf mögliche Ursachen und Bedingungen für die vorliegenden Lern- und Entwicklungsprobleme. Daran schließen sich Hypothesen über etwaige Lern- und Förderhilfen an, deren Umsetzung in praktische Förderung zeigt, in wieweit sie das Erreichen der nächsten Lern- und Entwicklungsschritte ermöglichen.
Die neuropsychologische Förderdiagnostik findet ihre Hypothesen mit Hilfe der aus Teilfunktionen bestehenden funktionellen Systeme und untersucht die Teilfunktionen mit der Methode der Variation der Aufgabenstellung.
- Untersuchung bedeutsamer Teilfunktionen
3.1 Theorie von LURIA
LURIA (1973) versucht, die Bedeutung einzelner Hirnstrukturen in eine ganzheitliche Sichtweise einzubetten. Er gliedert das Zentralnervensystem in drei funktionale Einheiten. Zur ersten Einheit zählen alle Teile des Zentralnervensystems, die den Tonus, Aktivierung und den Grad der Bewusstheit regulieren. In der zweiten Einheit werden alle Teile des Zentralnervensystems zusammengefasst, die an der Aufnahme, Analyse und Speicherung von Informationen beteiligt sind. Die dritte Einheit setzt sich zusammen aus den Bereichen des Zentralnervensystems, die mit der Programmierung, Regulation und Ausführung von Aktivitäten befasst sind. An jeder Verhaltensäußerung sind immer alle drei Funktionseinheiten beteiligt. Damit ist das Kernstück der Theorie von LURIA (1973) angesprochen: die funktionellen Systeme.
Bei der Bewältigung komplexer Anpassungsleistungen, wie Lesen oder Schreiben, arbeiten viele weitgestreute Zellgruppen in verschiedenen Gehirnarealen auf verschiedenen Funktionsebenen zusammen. Es wird so ein komplexes System aufgebaut, bestehend aus zahlreichen Untersystemen und Teilfunktionen, mit dessen Hilfe die anstehende Aufgabe bewältigt werden kann. Nach der Erledigung dieser Aufgabe, stehen die einzelnen Teilfunktionen und Subsysteme für neue Systembildungen und damit zur Erledigung neuer komplexer Anpassungsleistungen zur Verfügung. Zentrale Funktionsweise des Zentralnervensystems scheint also die schnelle und korrekte Integration vieler Subsysteme zu größeren Gesamtsystemen zu sein. Gelingt diese Integrationsleistung nicht, oder stehen einzelne Teilfunktionen nicht im erforderlichen Umfang oder der notwendigen Qualität zur Verfügung, kommt es zu entsprechenden Leistungsminderungen oder Lernhemmnissen.
Die neuere neurologische Forschung liefert Befunde, die LURIA's Modellvorstellung der funktionellen Systeme grundsätzlich stützen. PUGH et al. (1996) gehen zum Beispiel bei ihren Forschungsbemühungen von der Annahme aus, dass für den Leseprozess orthographische, phonologische und lexikalisch-semantische Teilfähigkeiten bedeutsam sind. Dabei meint orthographisch alle Prozesse der Identifikation von Buchstaben, phonologisch die Gesamtheit aller Vorgänge zur Erkennung der phonemischen Bausteine der Sprache und lexikalisch-semantisch alle Prozesse, die zum Erkennen der Wortbedeutung nötig ist. Sie ließen sich weiter von der Vorstellung leiten, dass sich mit jeder dieser Teilfähigkeiten ein System neurologischer Substrate in Verbindung bringen lässt. Fasst man die für unser Anliegen interessierenden Ergebnisse zusammen, lässt sich festhalten: Mit der Zunahme der Aufgabenkomplexität und Aufgabenschwierigkeit geht auch eine Zunahme der aktivierten Hirnmasse einher und an jeder Teilfertigkeit scheint ein Netz unterschiedlicher Hirnregionen beteiligt zu sein.
Es muss jedoch auch darauf hingewiesen werden, dass in der Studie von PUGH et al. (1996) wie auch in zahlreichen anderen (zum Beispiel HORWITZ et al. 1998, PAULESU et al. 1996, RUMSEY et al. 1997) enorm komplexe Aktivierungsmuster gefunden wurden, die eine große Zahl von Hirnarealen umfassen. Das Herstellen von Beziehungen zwischen Funktionen und Hirnarealen gestaltet sich extrem schwierig. Allein das Konstrukt der phonologischen Verarbeitung besteht, wie RUMSEY et al. (1997) zeigen konnten, aus einem großen System von Teilfertigkeiten und erscheint über viele Hirnregionen verteilt. Angesichts der Plastizität vor allem des Gehirns von Kindern und Jugendlichen (BOOKHEIMER/DAPRETTA 1996) erweist sich eine solche Funktionsverteilung derzeit als kaum vorstellbar. Noch problematischer wird das Herstellen von Orts-Funktions-Zusammenhängen, werden Studien zu gestörten Lese- oder Schreibprozessen mit einbezogen.
Das im folgenden zu beschreibende funktionelle System zum Schriftspracherwerb muss deshalb aus neurologischer Sicht als eine stark vereinfachende Grobstruktur angesehen werden, die sich nur in sehr eingeschränktem Maße auf neurologische Forschungsergebnisse stützen kann.
3.2 Funktionelles System zum Schriftspracherwerb
Da eine Beschreibung des gesamten funktionellen Systems an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde sollen beispielhaft die Teilfunktionen aus dem Bereich der auditiven Verarbeitung erläutert werden.
Damit spezifische und feste Beziehungen zwischen Vorstellungen und sprachlichen Lautgestalten, also Wörtern entstehen können, müssen zunächst zwei Teilprozesse, nämlich das Erkennen feiner Klangunterschiede (Diskrimination) und gleichzeitig das Ignorieren solcher Unterschiede (Konstanzerleben), integriert werden. Das Kind muss lernen, verschiedene Geräusche und Lautgebilde voneinander zu unterscheiden. Diese Fähigkeit wird im Laufe der Entwicklung mehr und mehr verfeinert, so dass sogar sehr ähnlich klingende Geräusche und Laute differenziert werden können. Diskriminiert wird jedoch nicht nur nach der Kategorie gleich-verschieden, sondern auch danach, ob etwas schneller, langsamer, höher oder tiefer gesprochen wird. Diese wahrgenommenen Unterschiede sind von Anfang an für das Kind bedeutungstragend. Eine höhere, eher leise Stimme wird von den meisten Säuglingen als angenehm erlebt, während tiefe und laute Stimmen eher Angst einflößen. Auditive Differenzierungsleistungen sind so von Anfang an eine wichtige Grundlage für das Deuten und Verstehen vorsprachlicher und später auch sprachlicher Umweltereignisse.
Gleichzeitig mit diesem feinen Diskriminationsvermögen entwickelt sich eine gegenläufige Fähigkeit. Die Kinder lernen, kleine durchaus wahrnehmbare Unterschiede zu ignorieren. Das Wort "Auto" klingt jedesmal anders, je nachdem ob der Opa, die Mutti oder der kleine Bruder es aussprechen. Es wird in einer anderen Tonlage, Lautstärke und vielleicht sogar in einer anderen mundartlichen Einfärbung ausgesprochen. Trotz dieser feinen Unterschiede muss das Wortklangmuster "Auto" jedesmal als dasselbe vom Kind wahrgenommen werden.
Erste Begriffsbildung Wiedererkennensgedächtnis Aktivierung Aufmerksamkeitssteuerung
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Repräsentanz im Gedächtnis Codierung, Decodierung: - Langzeitgedächtnis
(semantisches, phonematisches,
ortographisches Lexikon) - Arbeitsgedächtnis
- Abrufprozesse
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Visuelles System- Diskrimination
- Konstanzerleben
- Figur-Grundwahrnehmung
- räuml. Orientierung
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Auditives System- Diskrimination
- Konstanzerleben
- Figur-Grundwahrnehmung
- Phonematische Analyse
- Arbeitsgedächtnis
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Feinmotorische Regulation- Artikulation (Phonation, Atmung, Prosodie)
- Graphomotorik
- Okulomotorik
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Sequentielle Regulation- Segmentierung
- Zeitteilung
- Sequenzgedächtnis
- Automatisierung
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Pausen und Unterbrechungen Start- und Stoppregeln Temporegulation
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Halte-, Stell- und Gleichgewichtsreaktionen Muskeltonus
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Arbeitsgedächtnis |
Motivation sozial-emotionale und organismische Bedingungen
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Abb. 2 Zusammenstellung der am Schriftspracherwerb beteiligten Teilfunktionen oder Untersysteme
SCHNEIDER et al. (1994) sehen aufgrund ihrer umfangreichen Forschungsarbeiten in der phonologischen Bewusstheit, das heißt dem Bewusstsein und dem Zugang zur phonologischen Struktur von Sprache, eine wesentliche Voraussetzung für den Schriftspracherwerb. KÜSPERT (1998) fand bei der Sichtung vorliegender Studien, dass phonetisches Rekodieren im Arbeitsgedächtnis stattfindet. Die Bedeutung des Arbeitsgedächtnisses wird offensichtlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein Leseanfänger beim Erlesen eines Wortes zunächst jeden Buchstaben einzeln in das entsprechende Phonem dekodieren muss. Diese einzelnen Phoneme müssen solange im Arbeitsgedächtnis präsent sein, bis alle Laute des zu lesenden Wortes abgerufen sind und nun zu einem Wort zusammengefügt werden können.
In der Regel sind wir immer von einer Geräuschkulisse bestehend aus mehr oder weniger deutlichen Geräuschen und Stimmen umgeben. Um gezielt sprachliche Klanggestalten aufzunehmen, müssen wir die Fähigkeit entwickeln, einzelne, für die momentane Situation wichtige Geräusche oder Stimmen aus der Geräuschkulisse herauszufiltern, was uns mit Hilfe der Figur-Grundunterscheidung gelingt. Viele Lehrkräfte kennen Kinder, die zum Beispiel Arbeitsaufträge, die an die gesamte Klasse gerichtet sind, nicht verstehen, und deswegen sehr oft nachfragen. Manche dieser Kinder warten auch ab, bis die anderen mit dem Arbeiten begonnen haben und erschließen sich dann über die Beobachtung der Mitschüler die sprachlich gegebene Aufgabenstellung. Ursache für diese Schwierigkeit kann unter anderem auch eine nicht ausreichend entwickelte auditive Figur-Grundwahrnehmung sein.
Die Teilfunktionen eines funktionellen Systems dienen in der neuropsychologischen Förderdiagnostik als Grundlage für eine erste Hypothesenbildung über mögliche Ursachen und Bedingungen der vorliegenden Lernbehinderungen.
3.3 Qualitative Analyse psychometrischer Verfahren
Mit Hilfe einzelner Subtests oder Aufgabenstellungen aus psychometrischen Verfahren lassen sich die entsprechenden Teilfunktionen auf unterschiedlichem Niveau, unterschiedlich komplex und in unterschiedlichem Zusammenhang überprüfen.
Wiederum beispielhaft sollen hier einige Subtests angeführt werden, die sich dazu eignen, die spezifischen Teilfunktionen aus dem Bereich der auditiven Informationsverarbeitung zu analysieren:
- Auditive Diskrimination
Subtests aus Testverfahren:
Breuer/Weuffen |
Phonematische Differenzierung |
Mottier-Test |
|
TÜKI |
Bereich H1: Wortverständnis Bereich J2: Reproduzierende Sprache |
DRT 2/3 |
Fehlerart Trennschärfe (WT) Fehlerart Wortdurchgliederung (WD)
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TAW |
Einzelgeräusche Geräuschdiskrimination Wortlängen Klangeigenschaften Silben |
Sedlak/Sindelar |
Unterscheiden von Wortpaaren Unterscheiden von Paaren sinnloser Wörter |
DIAS |
Aufgabengruppe D und S (Unterscheiden) |
Küspert |
Transfertest zur phonologischen Bewußtheit |
BISC |
Laut-zu-Wort-Vergleich Silbensegmentierung
|
- Auditives Konstanzerleben
Subtests aus Testverfahren:
TAW |
Reimwörter |
Küspert |
Reimaufgabe |
BISC |
Reimproduktion Reimvergleich |
- Auditive Figur-Grundwahrnehmung
Subtests aus Testverfahren:
TAW |
Geräuschdiskrimination Sprach-Geräuschdiskrimination |
Sedlak/Sindelar |
Heraushören |
DIAS |
Aufgabensammlung D und S (Figur-Grund) |
- 4 Variation der Aufgabenstellung
Zusätzlich zur Auswahl der Aufgabenstellungen vor dem Hintergrund funktioneller Systeme besteht die neuropsychologische Förderdiagnostik noch aus einem Verfahren, das den Umgang mit den Aufgabenstellungen beschreibt: die Variation der Aufgabenstellung. Diese Methode ist in der Entwicklungstheorie von WYGOTSKI (1978, 1987) begründet.
4.1 Theorie von WYGOTSKI
Zentraler Gedanke in der Entwicklungstheorie von WYGOTSKI (1978, 1987) ist die Zone der proximalen Entwicklung. Sie wird von ihm definiert als Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsniveau eines Kindes, welches bestimmt ist durch seine Fähigkeit, Probleme selbständig zu lösen und einer höheren Ebene als möglicher Entwicklung, bestimmt durch die Fähigkeit, Probleme unter Anleitung zu lösen. Die Distanz zwischen aktuellem Entwicklungsstand und potentieller Entwicklung überwindet das Kind mit Hilfe kompetenter Personen (Eltern, ältere Geschwister, Lehrer, ...). Die kompetente, sachkundige Person baut bei ihrer Hilfestellung auf bereits vorhandene Fähigkeiten und Fertigkeiten auf und konfrontiert das Kind mit Aktivitäten und Aufgaben, die ein Kompetenzniveau erfordern, das über dem aktuellen Fähigkeitsniveau liegt, aber dennoch im Bereich des dem Kind Möglichen. Sie baut Brücken zwischen den vorhandenen und neuen Fertigkeiten und Fähigkeiten. Kinder beobachten andere Menschen oder werden zum Beispiel von Erwachsenen oder anderen Kindern auf wichtige Aspekte einer Situation aufmerksam gemacht. Kinder fragen nach neuen, ihnen unbekannten Dingen und Sachverhalten und werden im Gespräch aufgeklärt. Ein älteres Geschwister unterstützt den kleineren Bruder beim Erlernen des Radfahrens, indem es neben diesem herläuft und ihn im Gleichgewicht hält. Eltern ermutigen ihr Kind, auf dem Spielplatz zum Schaukeln. Sie wählen dabei eine Schaukel, die sehr dicht über dem Boden hängt, schieben das Kind nur ganz wenig an oder setzen sich zunächst selbst auf die Schaukel und nehmen das Kind auf ihren Schoß. Sie schaffen auf diese Weise einen benutzerfreundlichen Kontext, der ihrem Kind das Erlernen des Schaukelns möglich macht und erleichtert. Gleiches tut ein Vater, der an das Fahrrad seines Kindes, das Fahrradfahren lernen möchte, Stützräder montiert. Anleitung kann sowohl implizit als auch explizit sein. Lernen erfolgt in der Beschäftigung mit Aufgaben, an denen eine kompetente Person in irgend einer Form beteiligt ist und wird so zu einem natürlichen Nebenprodukt dieser Beschäftigung.
Abb. 3 Darstellung der Zone proximaler Entwicklung nach WYGOTSKI
Förderdiagnostik hat unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr die Aufgabe, lediglich den momentanen Entwicklungsstand festzustellen, sondern in der diagnostischen Situation soll auch der Lern- oder Entwicklungsprozess, der unter der Einwirkung eines kompetenteren Erwachsenen vonstatten geht, mit einbezogen werden. Der Erwachsene provoziert über seine Hilfestellungen diesen Lernprozess und macht auf diese Weise die Zone der nächsten Entwicklung sichtbar. Diese nächsten unter kompetenter Hilfe zu bewältigenden Entwicklungs- und Lernschritte bilden dann auch die Ausgangsbasis für weitere Fördermaßnahmen.
WYGOTSKI (1974) geht von dem bekannten und unumstrittenen Sachverhalt aus, dass ein Kind, das angeleitet wird und dem Hilfen angeboten werden, immer mehr leisten und schwierigere Aufgaben lösen kann als alleine. Diese Fähigkeit, von bisher Gelerntem ausgehend, Neues mit Unterstützung aufzunehmen ist für WYGOTSKI (1974) entscheidender für die Beurteilung der geistigen Entwicklung als das ledigliche Feststellen des momentanen Entwicklungsstandes. Er konnte in seinen Untersuchung zeigen, dass zum Beispiel zwei Kinder die gleiche Anzahl von Aufgaben richtig lösen konnten. Bei einem herkömmlichen diagnostischen Vorgehen hätte man für beide Kinder den gleichen Entwicklungsstand konstatiert. Bot man ihnen jedoch bei schwierigeren, von ihnen selbständig nicht lösbaren Aufgaben, entsprechende Hilfen an, bewältigten diese beiden Kinder unterschiedlich viele und unterschiedlich schwierige Aufgabenstellung. WYGOTSKI (1974) schlussfolgert daraus, dass diese beiden Kinder anscheinend nicht auf dem gleichen geistigen Niveau stehen und ihr Entwicklungsstand eben nicht gleich ist. Vielmehr unterschieden sie sich sehr deutlich in ihren Zonen der nächsten Entwicklung, was in seinen Untersuchungen auch Unterschiede im schulischen Lernen bedingte. Er zieht daraus den Schluss, "dass die Zone der nächsten Entwicklung für die Dynamik der intellektuellen Entwicklung und den Leistungsstand eine unmittelbarere Bedeutung besitzt als das gegenwärtige Niveau ihrer Entwicklung" (WYGOTSKI 1974, S. 237).
Aus dieser Sichtweise erwächst der Förderdiagnostik die Aufgabe, herauszufinden, welche Aufgaben ein Kind unter welcher Anleitung bewältigen kann, um damit Hinweise zu geben, was dem Kind wie als nächstes gelehrt werden kann.
4.3 Allgemeine Hinweise zur Aufgabenvariation
Für das methodische Vorgehen schlug bereits WYGOTSKI (1974) vor, die herkömmlichen Testverfahren nicht gänzlich zu verwerfen, sondern die dort zu findenden Aufgaben zu benutzen, und sobald ein Kind bei der Lösung scheitert, entsprechende Hilfen zu geben; das heißt die Aufgabenstellung so lange zu variieren, bis das Kind zu einer Lösung fähig ist. Durch die Aufgabenvariation werden Hilfestellungen gesucht, die einem Kind das Durchschreiten der proximalen Zone der Entwicklung ermöglichen. Die gefundenen Hilfen stellen Förderstrategien dar, die ein Fortschreiten des Kindes in seinem Lernen und seiner Entwicklung ermöglichen.
Folgende grundsätzliche, bei vielen Aufgabenstellungen verwendbare Variationsmöglichkeiten sind denkbar:
- Verlängerung der Bearbeitungszeit
- mehrmaliges Wiederholen der Instruktion
Beispiel: Im Grundintelligenztest CFT 1 werden Aufgaben vorgelegt, bei denen sich die Items über zwei Seiten des Testheftes erstrecken. Dem zu untersuchenden Kind wird jedoch immer nur eine Seite vorgelegt. Es kann nun vorkommen, dass beim Übergang von der einen auf die andere Seite dem Kind die Instruktion verloren geht, oder es den Eindruck gewinnt, es komme nun eine neue Aufgabe. In solchen Fällen ist allein die Wiederholung der Aufgabenstellung oder der Hinweis, dass es auf der neuen Seite genauso weitergeht wie auf der vorherigen, eine ausreichende Hilfe, die zur weiteren erfolgreichen Aufgabenbewältigung beiträgt.
- Anpassen der Instruktion an das Sprachniveau des Kindes
Beispiel: Im Subtest zur Figur-Grundwahrnehmung des FEW (Frostigs Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung) werden die Kinder aufgefordert, eine in anderen Figuren versteckte zu "umreißen". Bei Sprachverständnisschwierigkeiten hilft oft bereits die Formulierung "mit dem Stift um die Figur herumfahren".
- Vergrößerung der Vorlagen
- Pausen einlegen, kurze Arbeitsphasen, Verteilen der Aufgaben auf mehrer Tage
- Experimentierphase zulassen
- Aufgaben in Teilschritten anbieten
- Vormachen, Aufgaben beispielhaft lösen
- Reduzieren der Reizvielfalt
Beispiel: Zur Bearbeitung des ersten Subtests im CFT 1 wird dem Kind eine Seite des Testheftes vorgelegt, auf der über 70 Zeichen und Bildchen in acht Reihen angeordnet sind. Es kann nun sein, dass ein Kind durch diese Reizfülle verwirrt ist. Deckt man den größten Teil der Vorlage mit einem weißen Blatt Papier ab, wird diesem Kind ein erfolgreiches Bearbeiten möglich.
- Sprache als Strukturierungshilfe einsetzen
Beispiel: Der Hamburg-Wechsel-Intelligenztest für Kinder (HAWIK-R) enthält den Subtest Bilder ordnen. Dabei werden dem Kind mehrere Bildkärtchen vorgelegt, die eine Geschichte erzählen. Allerdings stimmt die Reihenfolge der Bildkärtchen nicht. Das Kind soll nun die Bildkärtchen so ordnen, dass sich eine in sich stimmige Geschichte ergibt. Bietet das Kind als Lösung eine unlogische Reihenfolge an, kann man es bitten, die vor ihm liegende Geschichte zu erzählen. Einigen Kindern fallen beim Umsetzen ihrer Geschichte in Sprache die logischen Ungereimtheiten auf und sie korrigieren ihre Lösung.
Nimmt man solche Variationen in der Aufgabenstellung vor, ist natürlich eine quantitative Auswertung nicht mehr möglich, da die Normierung psychometrischer Verfahren an eine möglichst exakte Standardisierung gebunden ist.
Dafür erhält der Untersucher aber sehr schnell eine Reihe wichtiger Hinweise über die individuellen Lernbedingungen eines Kindes. Wird die Untersuchung immer dann beendet, wenn das Kind die Aufgaben nicht mehr lösen kann, so hat der Untersucher für die weitere Förderung kaum verwertbare Erkenntnisse gewonnen. Streng genommen weiß er nur: er hat dem Kind zum Beispiel eine Reihe von Bildchen vorgelegt und es war nicht in der Lage, diese in eine logische Reihenfolge zu bringen. Findet er aber über die Variation der Aufgabenstellung heraus, dass die Versprachlichung zur korrekten Lösung führt, kann er dieses Wissen von nun an bei ähnlichen Aufgaben hilfreich einsetzen. In gleicher Weise können auch die anderen einfachen und allgemeinen Variationen diagnostisch interpretiert werden und zu konkreten Hilfestellungen führen.
4.4. Spezifisches Beispiel
In vorliegenden spezifischen, praktisch verwertbaren Beispielen werden die Aufgabenstellungen systematisch variiert. Dies bedeutet, dass sich die Variation der Aufgabenstellung an klar definierten Kategorien oder Merkmalen orientiert.
GRAICHEN (1975) erläutert die Methode der systematischen Aufgabenvariation anhand eines Fallbeispiels und zeigt dabei die unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten der möglichen Fehlleistungen. Er stellt einem fünfjährigen Jungen im Verlauf des Kramer-Intelligenztests folgende Aufgabe: 20 Holzperlen liegen in einer Schachtel vor dem Kind und es soll dem Untersucher vier Perlen geben.
- Reagiert das Kind weder auf die sprachliche Aufforderung noch auf die Geste der aufgehaltenen Hand, könnte eine autistische Störung vorliegen, die mit weiteren Aufgaben untersucht werden müsste. So wäre an dieser Stelle zu klären, ob das Kind seine Mitarbeit beispielsweise nur bei sprachlichen Aufgaben verweigert oder nur bei bestimmten Personen oder grundsätzlich immer.
- Geht das Kind zwar auf die Aufforderung ein und gibt eine Perle, fängt dann aber an die Perlen im Raum herumzuwerfen, steht auf und wendet sich anderen Gegenständen zu usw., wäre das unter Umständen ein Hinweise auf eine Schwäche in der Oberprogrammsteuerung mit einem Verlust der Aufgabenstruktur, die bei anderen Aufgabenstellungen ebenfalls zu beobachten sein müsste.
- Das Kind lässt sich auf die Aufgabenstellung ein und bleibt auch im Programm, entnimmt der Schachtel jedoch eine falsche Anzahl von Perlen.
- Eine erste Hypothese zur Erklärung dieser Fehlleistung könnte das vorliegen einer peripheren Hörbehinderung sein. Dem Kind wird deshalb die gleiche Aufgaben noch einmal mittels Gestik gestellt und die Anzahl der Perlen mit den Fingern gezeigt. Einem schwerhörigen oder gar tauben Kind würde die Lösung der Aufgabe nun sofort gelingen.
- Auch auf die gestische Aufforderung gibt das Kind die falsche Anzahl von Perlen, was auf eine Lernminderung in diesem kognitiven Bereich aufmerksam macht. Als nächstes wird das Kind aufgefordert, zu zählen ("Wie weit kannst Du denn schon zählen"). Das Kind nennt nun zum Beispiel verschiedene Zahlwörter aber in falscher Reihenfolge. Hier könnte man eine Sprachentwicklungsstörung vermuten, die zurückzuführen ist auf Schwierigkeiten bei der Bildung von Übergangswahrscheinlichkeiten und einem daraus resultierenden Problem beim Abruf sprachlicher Elemente in der richtigen Reihenfolge. Die erschwert möglicherweise auch den Aufbau eines konstanten Mengenbegriffes, was ein Abzählen-können voraussetzt.
- Das Kind gibt die Zahlenfolge in der richtigen Reihenfolge wider, aber das Abzählen gelingt nicht sicher. Dies wird sichtbar, wenn die gleiche Anzahl von Perlen, wie sie im freien Zählen erreicht wird, vor dem Kind aufgereiht wird, und es gebeten wird, sie zu zählen. Zeigt das Kind völlig asynchron zum Nennen der Zahlwörter auf die Perlen, indem sein zeigender Finger weiterwandert ohne dass ein Zahlwort genannt wird oder umgekehrt, könnte die Schwierigkeit hier in der Koordination von Bewegungsabläufen und Denkvollzügen liegen.
Es ließe sich aber auch noch vermuten, dass dieses Kind in anderen motorischen Leistungen auffällig ist und ihm die Koordination verschiedener motorischer Systeme schwer fällt. Diesem Verdacht wird nachgegangen, indem von ihm eine Reihe diadochokinetisch fortgesetzter, manueller Übungen gefordert werden.
Am Ende seiner Ausführungen weist GRAICHEN (1975) noch darauf hin, dass es für solche Aufgabenvariationen kein festes Kochbuch geben kann, sondern dieses Vorgehen nur durchführen kann, wer ein breites Fachwissen parat hat.
Weitere Anregungen zur Variation der Aufgabestellungen finden sich in der Tübinger Luria-Christensen Neuropsychologischen Untersuchungsreihe für Kinder (TÜKI) sowie bei KORNMANN und RÖSSLER (1986) und KORNMANN (1986).
- Zusammenfassung
Eine neuropsychologisch orientierte Förderdiagnostik besteht aus zwei Teilen. Einmal führt das funktionelle System, das zum vorliegenden Problem erstellt wird, zu wissenschaftlich abgesicherten Hypothesen über die möglichen Teilfunktionen, die dieses Problemverhalten bedingen könnten. Beispielhaft wurde dies für den Schriftspracherwerb aufgezeigt. Daran anschließend sucht der Diagnostiker nach geeigneten Aufgabenstellungen zur Überprüfung der einzelnen Teilfunktionen, die er in der Fülle der vorliegenden Überprüfungsverfahren finden kann.
Im zweiten Teil der neuropsychologisch orientierten Förderdiagnostik überprüft er seine Ausgangshypothesen mit den ausgewählten Aufgabenstellungen und sucht über die Variation der Aufgabenstellung nach geeigneten Hilfs- und Fördermöglichkeiten.
Literatur:
- Bookheimer, S.Y. u. Dapretto, M. Functional Neuroimaging of Language in Children: Current Directions and Future Challenges. In Thatcher, R.W., Lyon, G.R., Rumsey, J. u. Krasnegor, N. (Hg.), Developmental Neuroimaging: Mapping the Development of Brain and Behavior. San Diego 1996, 157-167
- Graichen, J. Kann man legasthenische und dyskalkulatorische Schulschwierigkeiten voraussagen? Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 24, 1975, 52-57
- Horwitz, B., Rumsey, J.M. u. Donohue, B.C. Functional connectivity of the angular gyrus in normal reading and dyslexia. Proceeding of the National Academy of Sciences of the USA 95, 1998, 8939-8944
- Kornmann, R. Förderdiagnostisch orientierte Variation der Testbedingungen bei ausgewählten Aufgaben des HAWIK. Zeitschrift für Heilpädagogik 37, 1986, 674-684
- Kornmann, R. u. Rössler, G. Variation der Untersuchungsbedingungen als förderdiagnostisches Prinzip am Beispiel eines Verfahrens zur Prüfung der Fähigkeit zur Lautunterscheidung. In Kornmann, R., Meister, H. u. Schlee, J. (Hg.), Förderdiagnostik. Konzept und Realisierungsmöglichkeiten. Heidelberg 1986, 102-106
- Küspert, P. Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb. Zu den Effekten vorschulischer Förderung der phonologischen Bewusstheit auf den Erwerb des Lesens und Rechtschreibens. Frankfurt 1998
- Luria, A.R. The working brain. An Introduction to Neuropsychology. London 1973
- Paulesu, E., Frith, U., Snowling, M., Gallagher, A., Morton, J., Frackowiak, R. u. Frith, C. Is developmental dyslexia a disconnection syndrome? Evidence from PET scanning. Brain 119, 1996, 143-157
- Pugh, K.R., Shaywitz, B.A., Shaywitz, S.E., Constable, R.T., Skudlarski, P., Fulbright, R.K., Bronen, R.A., Shankweiler, D.P., Katz, L., Fletcher, J.M. u. Gore, J.C. Cerebral organization of component processes in reading. Brain 119, 1996, 1221-1238
- Rumsey, J.M., Nace, K., Donohue, B., Wise, D., Maisog, J.M. u. Andreason, P. A Positron Emission Tomographic Study of Impaired Word Recognition and Phonological Processing in Dyslexic Men. Archives of Neurology 54, 1997, 562-573
- Schneider, W., Vise, M., Reimers, P. u. Blaesser, B. Auswirkungen eines Trainings der sprachlichen Bewusstheit auf den Schriftspracherwerb in der Schule. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie 8, 1994, 177-188
- Wygotski, L.S. Denken und Sprechen. Frankfurt 1974
- Wygotski, L.S. Mind in Society: The Development of Higher Psychological Processes. Cambridge 1978
- Wygotski, L.S. Ausgewählte Schriften. Band 2: Arbeiten zur psychischen Entwicklung der Persönlichkeit. Köln 1987
Testverfahren:
Abkürzung Name des Testverfahrens:
- BISC: Bielefelder Screening zur Früherkennung von Lese-Rechtschreib-schwierigkeiten
- Breuer/Weuffen: Lernschwierigkeiten am Schulanfang. Weinheim 1994
- DIAS: Diagnostisches Inventar auditiver Alltagshandlungen
- DRT 2/3: Diagnostischer Rechtschreibtest für die Klassen 2 und 3
- Küspert: Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb. Ffm. 1998
- Mottier-Test: Teil des Züricher Lesetests
- Sedlak/Sindelar: Hurra ich kann's. Wien 1994
- TAW: Test zur auditiven Wahrnehmung
- TÜKI: Tübinger-Luria-Christensen Neuropsychologische Untersuchungsreihe für Kinder
Anschrift des Verfassers:
Dr. Erwin Breitenbach, Dipl.-Psych.
Universität Würzburg
Lehrstuhl Sonderpädagogik I
Wittelsbacherplatz 1
97074 Würzburg