Erwin Breitenbach
In Leitfäden und Handreichungen zur Förderdiagnostik wird darauf hingewiesen, daß eine förderdiagnostische Untersuchung möglichst umfassend erfolgen soll. Lehrerinnen und Lehrern wird empfohlen, im Rahmen der Anamnese nach Problemen während der Schwangerschaft und Geburt, nach dem Trinkverhalten des Neugeborenen, nach Krankheiten in der Säuglings- und Kleinkindzeit, nach dem Verlauf der motorischen und sprachlichen Entwicklung, nach den familiären und schulischen Verhältnissen usw. zu fragen. Bei der Untersuchung des allgemeinen Entwicklungsstandes sollten Informationen über die taktil-kinästhetische, die visuelle und die auditive Wahrnehmung gesammelt werden genauso wie über Gedächtnis, Körperschema, Fein- und Grobmotorik, Sprache und Denken (AMOROSA et al. 1992, BRAND et al. 1997, BUNDSCHUH 1991, NIEDERSÄCHSISCHES LANDESINSTITUT FÜR LEHRERFORTBILDUNG, LEHRERWEITERBILDUNG UND UNTERRICHTSFORSCHUNG 1983, STAATSINSTITUT FÜR SCHULPÄDAGOGIK UND BILDUNGFORSCHUNG 1991).
Neben dieser mehr auf das Kind und seine Fähigkeiten abhebenden Diagnostik bevorzugen andere Autoren wie etwa EBERWEIN/KNAUER (1998) einen systemisch-ganzheitlichen Ansatz, der alle lebensweltlichen Teilsysteme, in die ein Kind eingebunden ist, bei der Beurteilung des Lernverhaltens berücksichtigt. Schulische Problemsituationen sind unter dieser Perspektive Ausdruck einer komplexen Lern- und Lebenssituation. Sie erheben an die Förderdiagnostik den Anspruch, "möglichst umfassende lebenswelt-, unterrichts- und interessenbezogene Informationen und Daten zu erhalten" (EBERWEIN/KNAUER 1998, S. 9).
Zu fragen wäre nun, ob nicht eine umfassende sonderpädagogische Förderdiagnostik beide Perspektiven beinhalten muß, ohne daß zwischen diesen eine unterschiedliche Wertung vorgenommen wird. Gelangt man vielleicht nur zu bedeutsamen diagnostischen Informationen, wenn man einerseits die Fähigkeiten und Fertigkeiten eines Kindes in den Blick nimmt und andererseits immer deren Situationsgebundenheit berücksichtigt? Heißt umfassend in diesem Zusammenhang auch, daß der Diagnostiker zunächst fast wahllos alle Informationen über das Kind in seiner Lern- und Lebenssituation zusammenträgt, getrieben von der Sorge, wesentlichen Informationen zu übersehen? Auf welche Weise gelangt der Diagnostiker zu der Gewißheit, alle bedeutsamen Untersuchungsdaten, die zur Gestaltung einer angemessenen Hilfe erforderlich sind, erhoben zu haben?
Im Angesicht eines vielfach diskutierten
Paradigmenwechsels in der Sonderpädagogik wird von einigen Autoren
auch eine neue Diagnostik gefordert (EGGERT 1997, MAND 1998, KNAUER 1998).
Die bisherige traditionelle Diagnostik orientierte sich an Defekten, Störungen
und Defiziten, während die neue Diagnostik Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten,
individuelle Stärken und Ressourcen in den Vordergrund stellt. Sucht
der um eine umfassende Diagnostik bemühte Diagnostiker nun nach Stärken
oder nach Schwächen oder vielleicht nach beidem?
1 Der Lebensraum nach Kurt LEWIN
Zur Beschreibung der Verhaltensbedingungen eines Individuums zu einem gegebenen Zeitpunkt benutzt LEWIN (1969) das Konstrukt des Lebensraumes. Der Lebensraum besteht aus der psychologischen Person und der psychologischen Umwelt.
Die psychologische Umwelt eines Individuums enthält nur Gegebenheiten, die für das Individuum gegenwärtig von Bedeutung sind. Physikalische, soziale oder begriffliche Fakten zählen zum Lebensraum nur insofern, als sie sich für eine individuelle Person in ihrem momentanen Zustand als wirksam erweisen. Sie existieren nicht als objektive Fakten, sondern stellen sich so dar, wie sie vom Individuum verstanden und erlebt werden. Der Lebensraum ist im wesentlichen von psychologischer Natur. "Wenn die Mutter einem ungezogenen Kind mit der Polizei droht, und das Kind nun aus Angst vor dem Polizisten eine bestimmte Handlung ausführt, so kommt es für die Darstellung und Erklärung des Verhaltens des Kindes nicht auf die rechtliche oder soziale tatsächliche Macht des Polizisten über das Kind an, sondern auf jene Macht, die der Polizist dem Glauben des Kindes gemäß besitzt" (LEWIN 1969, S. 46).
Weiterhin ist der Lebensraum für
LEWIN (1969) der Inbegriff des Möglichen. Nicht die unterschiedlichen
Fakten als solche sind im Erleben eines Individuums bedeutsam, sondern
eher deren funktionelle Möglichkeiten. Im Lebensraum eines Kindes
existieren so zum Beispiel Erwachsene, die freundlich sind oder streng,
Stellen die vor Regen schützen und andere, an denen man vor dem Zugriff
Erwachsener sicher ist. Manche Dinge reizen zum Essen andere zum Klettern.
Ein physikalisches, soziales oder begriffliches Faktum kann sogar für
ein und dasselbe Kind in verschiedenen Bedürfnislagen und Situationen
eine unterschiedliche psychologische Bedeutung besitzen. Ob etwas zum Essen
reizt oder nicht, hängt auch davon ab, ob das Kind hungrig oder satt
ist. Ein Kind hält sich an eine Regel oder nicht, je nachdem ob die
Lehrkraft anwesend ist oder nicht. Lewin bezeichnet die Fakten des Lebensraums
deshalb auch als quasi-physikalisch, quasi-sozial und quasi-begrifflich.
Abb. 1 Darstellung des Lebensraumes: P = psychologische Person, U = psychologische Umwelt, P + U = Lebensraum (aus HALL und LINDZEY 1978, S. 244)
Er unterscheidet bei der Analyse und Vorhersage von Verhalten auch zwischen der Lebens- und der Momentsituation. Ein Kind sitzt in der Schule und soll Rechenaufgaben lösen. Einige Mitschüler darunter auch der Banknachbar sind mit ihren Rechenaufgaben längst fertig und dürfen malen. Das Kind schaut immer wieder zu den malenden Mitschülern und läßt sich von seinen Rechenaufgaben ablenken. Der Lehrer wird immer ungeduldiger und fordert das Kind ständig auf, zügiger zu arbeiten. Das Kind ärgert sich. Dies wären zum Beispiel einige Daten über die Momentsituation dieses Schülers. Über seine Lebenssituation ließe sich vielleicht sagen, daß er noch einen zwei Jahre älteren Bruder hat. Die Mutter ist alleinerziehend, arbeitet und hat wenig Zeit für die beiden Buben. Momentan ist sie besonders angespannt und schimpft bei jeder Kleinigkeit. Heute morgen hat sie sogar damit gedroht, die beiden Buben ins Heim zu stecken. Daß Lebens- und Momentsituation eng miteinander verknüft sind, ist für LEWIN (1969) offensichtlich. In obigem Beispiel mag die Lebenssituation einen nicht sehr gegenwärtigen Hintergrund für die Momentsituation bilden. Es könnte aber auch sein, daß der Junge während des Rechnens immer wieder angsterfüllt an die Drohung der Mutter denkt, ihn in ein Heim zu geben. Die Lebenssituation würde so zu einem Teil der Momentsituation. Obwohl die Lebenssituation in irgend einer Weise alles Verhalten mitbestimmt, ist nach LEWIN (1969) das Ausmaß dessen, was explizit zum Lebensraum zählt, in verschiedenen Fällen recht unterschiedlich. Je nachdem, welche Entscheidung zu treffen ist, welches Problem zu lösen ist, tritt manchmal die Lebenssituation und manchmal die Momentsituation in den Vordergrund. Die Entscheidung welche konkrete Hilfestellung beim Erlernen des Buchstaben A bei einem Schüler notwendig ist, wird sich aus einer recht eng gefaßten Momentsituation heraus ergeben. Ob man dagegen einem Elternpaar rät, seinen Sohn auf eine Sonderschule zu schicken, erfordert sicher eine stärkere Berücksichtigung der Lebenssituation des betreffenden Kindes.
Die Vergangenheit und Zukunft oder das Unwirkliche und die Beziehung zum gegenwärtigen Lebensraum ist für LEWIN (1969) ebenfalls eine zu klärende Frage. Möchte eine Schülerin beim nächsten Diktat weniger Rechtschreibfehler machen, um von ihrer Lehrerin gelobt zu werden, so ist dieses Ziel als psychologisches Faktum für LEWIN (1969) zweifellos ein gegenwärtiges, das einen wesentlichen Bestandteil des gegenwärtigen Lebensraumes ausmacht. Dagegen ist der Inhalt des Zieles, nämlich das Schreiben des Diktates mit wenigen Fehlern und das sich daran anschließende Lob, ein zukünftiges Ereignis und somit außerhalb des gegenwärtigen Lebensraumes. Eine ähnliche Differenz der Zeitbestimmung für das psychische Faktum und seinen Inhalt besteht auch im Zusammenhang mit Vergangenem, also zum Beispiel der Erinnerung an, der Flucht vor oder der Scham über zurückliegende Ereignisse. "Existenz oder Nicht-Existenz und die Zeitlage eines psychischen Faktums sind unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz und der Zeitlage des Faktums, auf das es sich inhaltlich bezieht" (LEWIN 1969, S.58). Dennoch ist der Inhalt zum Beispiel von Zielen nicht völlig irrelevant für die Bestimmung des Lebensraumes. Ob ein Ziel als etwas sicher Existierendes, als etwas Mögliches oder gar als etwas äußerst Unwahrscheinliches angesehen wird, ist psychologisch und damit für den gegenwärtigen Lebensraum wiederum sehr wesentlich. Die Bedeutung von Zukunft und Vergangenheit für den Lebensraum ist von Fall zu Fall recht verschieden. LEWIN (1969) weist zum Schluß noch auf eine wichtige entwicklungsgeschichtliche Tatsache hin, daß nämlich die zeitliche Ausdehnung des Lebensraumes mit dem Alter der Kinder zunimmt.
Eine weitere mit der Zeitbestimmung in gewisser Weise verwandte Frage ist für Lewin (1969) die Frage nach der Bestimmtheit oder Klarheit von psychologischen Fakten. Das Berufsziel eines 14-jährigen Jungen kann noch völlig vage und unklar sein. Erwartungen an eine andere Person oder Situation können sehr bestimmt und klar formuliert werden. Die zunehmende Orientierung in einer neuen Umgebung bringt eine Abnahme im Grad der Unklarheit. Bestimmheit oder Unbestimmtheit spielen eine große Rolle für Entscheidungen oder auch für die Klarheit und Festigkeit eines bestimmten Verhaltens. Es handelt sich hierbei ebenfalls für LEWIN (1969) um eine wesentliche Eigentümlichkeit jeder Situation, und damit auch des Lebensraumes.
Die psychologische Person ist Teil
des Lebensraumes und, wie Abb. 1 deutlich zeigt, von der psychologischen
Umwelt völlig umgeben. Sie wird von LEWIN (1969) als aus zwei großen
unterscheidbaren Bereichen bestehend beschrieben, nämlich einem innerpersonalen,
der vom zweiten, dem sensomotorischen Bereich komplett eingeschlossen ist.
Der innerpersonale Bereich einer Person hat somit keinen direkten Kontakt
zur psychologischen Umwelt. Einwirken auf die psychologische Umwelt und
Informationsaufnahme aus der psychologischen Umwelt gelingt nur über
den sensomotorischen Bereich, der in sich nicht weiter untergliedert ist.
Im innerpersonalen Bereich differenziert LEWIN (1969) wiederum in zentrale
und periphere Bereiche. Die peripheren Bereiche einer Person liegen direkt
am sensomotorischen Bereich an und sind somit leichter durch Informationen
aus der psychologischen Umwelt beeinflußbar oder können auch
leichter über die Sensomotorik ihren Ausdruck finden und auf die psychologische
Umwelt einwirken (siehe Abb 2). Zwischen den einzelnen innerpersonalen
Bereichen einer Person gibt es ebenfalls dynamische Abhängigkeiten.
Dies besagt, daß ein Bereich mehr oder weniger stark auf andere einwirkt.
Die Prüfungsangst eines Kindes beinflußt zum Beispiel seine
Fähigkeit zu rechnen oder problemlösend zu denken. Diese gegenseitige
Beeinflussung der einzelnen Bereiche belegt LEWIN (1969) mit dem Begriff
"dynamische Kommunikation".
Abb. 2 Darstellung der Person: z = zentraler
Bereich, p = peripherer Bereich, SM = sensomotorischer Bereich, IP = innerpersonaler
Bereich (aus HALL und LINDZEY 1978, S. 247)
Die Lage eines innerpersonalen Bereiches mehr zentral oder eher peripher sowie die damit verbundene Zugänglichkeit und Ausdrucksleichtigkeit ist nicht völlig festgelegt. Sie hängt ab vom augenblicklichen Zustand der Person und den Eigentümlichkeiten der Situation. Ein Mensch hat zum Beispiel einen ganz bestimmten "wunden Punkt" und ist damit in diesem Punkt, in diesem bestimmten Bereich grundsätzlich leichter zu treffen und zu verletzen als in einem anderen. Zusätzlich kann es aber auch noch sein, daß wir in ganz bestimmten Situationen leichter oder schwerer zu beeinflussen sind oder mehr oder weniger schnell zum Beispiel "aus der Haut fahren".
Ein weiteres wesentliches Merkmal ist der Differenzierungsgrad einer Person. Für LEWIN (1969) besteht einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Kind und Erwachsenem darin, daß die kindliche Person weniger in Teilbereiche differenziert ist. "Das Wachsen der psychischen Umwelt und der Person des Kindes bedeutet nicht einfach quantitative Zunahme an Größe, sondern ist gleichzeitig wesentlich ein Vorgang der Differenzierung" (LEWIN 1969, S. 190). Auch ist der Grad der Ganzheitlichkeit eines innerpersonalen aus unterschiedlichen Bereichen bestehenden Systems zu unterscheiden. LEWIN (1969) behauptet, daß dieser Grad der Ganzheitlich beim Kind größer ist als beim Erwachsenen. Das heißt, die Veränderung eines Teilbereiches wirkt sich beim Kind gewöhnlich in viel größerem Maße auf alle anderen Teile aus als beim Erwachsenen.
In der Entwicklung vollzieht sich neben dem oben beschriebenen Prozeß der Differenzierung nach LEWIN's Auffassung auch ein Prozeß der Integration. Es entsteht ein höherer Grad an Abhängigkeit zwischen den einzelnen Teilbereichen einer Person und bewirkt dadurch einen höheren Grad an Einheit der Person als Ganzheit.
Aus dem Konzept des Lebensraumes ergibt sich für die Diagnostik die Aufgabe, die psychologische Person mit den innerpersonalen und dem sensomotorischen Bereichen und die Bedingungen der psychologischen Umwelt zu erfassen. Gleichzeitig muß das Aufeinander-bezogen-sein dieser beiden Teilaspekte des Lebensraumes immer mitgedacht und berücksichtigt werden.
Diagnostik ist somit stets situations-
und problembezogen. Sie erfaßt kindliches Verhalten zum Beispiel
beim Anfertigen von Hausaufgaben, beim Schreiben eines Diktates oder Lösen
einer Rechenaufgabe in der Schule, beim Austragen eines Konfliktes mit
anderen Kindern im Pausenhof, beim Lernen des Radfahrens am Nachmittag,
usw. Je nach Situation verändert sich der Lebensraum und damit auch
seine beiden nicht voneinander trennbaren Bestandteile ,die psychologische
Person und die psychologische Umwelt, ständig. Durch die förderdiagnostische
Fragestellung wird die zu beschreibende, zu untersuchende Lebens- und Lernsituation
eines Kindes und damit der spezifische Lebensraum ausgewählt und bestimmt.
Je nach ausgewählter Momentsituation muß die gesamte Lebenssituation,
müssen Ereignisse aus der Vergangenheit oder Vorstellungen über
Zukünftiges mehr oder weniger stark bei der Beschreibung des Lebensraumes
berücksichtigt werden. Entsprechend der diagnostischen situationsgebundenen
Fragestellung erlangen natürlich auch unterschiedliche innerpersonale
und sensomotorische Bereiche, die ebenfalls Bestandteile des Lebensraums
sind, unterschiedliche Bedeutsamkeit. So weiß eine Lehrkraft aus
ihrem Fachwissen heraus, daß in der Situation Diktatschreiben zum
Beispiel die auditive Wahrnehmung und Verarbeitung, das Arbeitsgedächtnis,
die Steuerung der Graphomotorik, Leistungsmotivation, usw. relevante innerpersonale
und sonsomotorische Bereiche darstellen.
2 Förderdiagnostik als hypothesengeleiteter Prozeß
Eingangs wurde die Frage gestellt, auf welche Weise der Diagnostiker die Gewißheit erhält, alle bedeutsamen Informationen erhoben zu haben, die erforderlich sind, um eine angemessene Hilfestellung anbieten zu können.
Dies ist nur möglich, wenn man wie KOBI (1977) davon ausgeht, daß Diagnostik und pädagogische Intervention eine untrennbare Einheit innerhalb interaktionaler Kreis- und Gestaltungsprozesse bilden. Im Rahmen der Förderdiagnostik werden Daten und Fakten erhoben, "die in einem direkten Bezug stehen zu heilpädagogisch-orthodidaktischen Interventionen und Innovationen" (KOBI 1977, S. 120). Das sogenannte "TOTE-Modell", das im Zusammenhang mit der Handlungstheorie von MILLER, GELANTER und PRIBRAM (1960) formuliert wurde, erscheint geeignet, die integrierte Einheit diagnostischen und fördernden Handelns zu beschreiben. In seiner einfachsten Struktur besteht es aus den Elementen Überprüfung ("Test"), der auf der Überprüfung aufbauenden Förderung ("Operate"), der erneuten Überprüfung, ob die erreichten Ziele mit den angestrebten übereinstimmen ("Test") und dem Ende des Prozesses ("Exit"), falls die angestrebten Ziele erreicht wurden. Im gegenteiligen Fall geht der Prozeß mit modifizierten Fördermaßnahmen ("Operate") weiter, führt dann wieder zu einer Überprüfung ("Test") usw.
Im folgenden soll nun der förderdiagnostische Prozeß auf dieser Basis näher beschrieben werden: Aus seinem didaktischen Wissen heraus macht ein Lehrender einem Kind oder Jugendlichen ein Lehrangebot. Er weiß zum Beispiel, wie Kinder normalerweise das Schreiben, Lesen oder Rechnen lernen und gestaltet entsprechend sein Lehren. Trifft er mit seinem Angebot beim Lernenden auf Lernbereitschaft und Lernmotivation, so wird das Kind sich auf sein Lehrangebot einlassen. An verschiedenen Stellen des Lehr-Lernprozesses können jedoch beim Lernenden aus den unterschiedlichsten Gründen Lernschwierigkeiten, Lernhemmungen auftreten, die das Kind alleine nicht überwinden kann. Der Lehrende ist nun gezwungen, den Lehr-Lernprozeß an dieser Stelle zu analysieren, um zu verstehen und um aus diesem Verstehen heraus dem Lernenden Hilfen zur Überwindung seiner Lernhemmungen anbieten zu können. Es entsteht für den Lehrenden damit eine spezifische diagnostische Fragestellung.
Der Lehrende besitzt einerseits ein Wissen über Lehren und Lernen, über den Verlauf einzelner Erwerbsprozesse und über Lernhindernisse sowie andererseits auch Wissen über den Lernenden und dessen individuelle Lernbedingungen. Auf dieser Wissensbasis entwickelt der Lehrende erste Hypothesen über mögliche Gründe und Bedingungen für das Entstehen der Lernhemmung beim Lernenden. So kann zum Beispiel ein Lehrer, dessen Schüler übermäßig viele Rechtschreibfehler im Diktat unterlaufen, die Vermutung haben, diese große Fehlerzahl hänge mit einer mangelnden Kenntnis der Rechtschreibregeln, mit einer zu gering entwickelten auditiven Gliederungsfähigkeit oder auch mit einer zu geringen Merkfähigkeit für sprachliches Material zusammen.
Der Lehrer wird im nächsten Schritt
versuchen, diese seine Hypothesen zu überprüfen. Er wird geeignete
diagnostische Verfahren auswählen und sie durchführen. So könnte
er in obigem Fall die Rechtschreibfehler seines Schülers systematisch
nach einzelnen Kategorien ordnen und auf diese Weise sehen, ob dieser Schüler
im Laufe eines Diktates gehäuft gegen einzelne Rechtschreibregeln
verstößt oder in welchem Ausmaß ihm typische Fehler unterlaufen,
die auf mangelhafte auditive Verarbeitung hinweisen.
Abb. 3 Darstellung des förderdiagnostischen Prozesses
Bestätigen die diagnostischen Informationen seine Vermutungen nicht, findet er keine Hinweise auf eine mangelnde Regelkenntnis oder die angenommenen Schwächen in der auditiven Informationsverarbeitung, muß er neue Hypothesen über den möglichen Bedingungshintergrund für die vielen Fehler im Diktat suchen und diese dann wiederum überprüfen. Er wird vielleicht nun Vermutungen darüber anstellen, ob die Lernsituation in seiner Klasse für den betreffenden Schüler ungünstig ist. Schenkt er ihm genügend Aufmerksamkeit und Zuwendung? Traut er ihm unter Umständen zu wenig zu und gibt vorschnell Unterstützung, sodaß der Schüler zu selten Lernerfolge erlebt, die er sich selbst und seinem Können zuschreiben kann? Mit Hilfe einer gezielten Unterrichtsbeobachtung durch einen Kollegen oder eine Kollegin könnte der Lehrer beispielsweise versuchen, diese Hypothesen zu überprüfen, um so zu einem veränderten Lehrangebot zu kommen.
Erhärtet sich jedoch sein ursprünglicher Verdacht über den Bedingungshintergrund der Lernhemmung seines Schülers, wird er auf dieser Basis Hypothesen über nächste Entwicklungsschritte und entsprechende Fördermaßnahmen entwerfen. Er wird sich überlegen, in welchen weiteren Lernschritten und mit welchen Hilfen, mit welchem neuen Lehrangebot er dem Schüler beim Überwinden der gefundenen Lernhemmungen helfen kann.
Im weiteren Verlauf wird der Lehrer
nun gemäß seiner Hypothesen die Hilfen und das entsprechende
Lehrangebot in die Tat umsetzen und beobachten, inwieweit der Schüler
auf dieses Angebot zugreift und wie er mit den angebotenen Hilfen und dem
veränderten Lehrangebot seine Lernhemmungen überwindet und zum
Beispiel im Prozeß des Schreibenlernens fortschreitet. Der Lehrer
erfährt auf diese Weise, ob seine Hypothesen, das neue Lehrangebot
betreffend, hilfreich und richtig waren. Gleichzeitig beinhaltet diese
Erfahrung eine Reihe neuer diagnostischer Informationen über das Lernen
des Schülers, die er bei der weiteren Gestaltung seines Lehrangebotes,
beim Festlegen nächster Entwicklungs- und Lernschritte sowie bei der
Auswahl neuer Hilfen berücksichtigen wird. Es kann jedoch auch der
Fall eintreten, daß sich im Rahmen des neuen Lehr- und Förderangebotes
neue Lernhemmungen einstellen, die ihrerseits wieder einer Analyse bedürfen.
3 Von den Stärken ausgehen
EGGERT (1997) weist darauf hin, daß der Paradigmenwechsel im Bild vom Menschen mit Behinderungen auch einen diagnostischen Blickwechsel fordert, der weniger die Schwächen oder Momente des Nicht-Könnens, sondern vielmehr die Stärken eines Schülers sucht und bei der Gestaltung von Lehr- und Förderangeboten an eben diesen Stärken und damit am Können ansetzt. Auch für EBERWEIN und KNAUER (1998) ist in der Sonderpädagogik eine grundlegende Revision diagnostischen Denkens und Handelns notwendig, ein radikales Umdenken gegenüber der traditionellen defizitorientierten sonderpädagogischen Diagnostik mit ihren Zuschreibungen und Plazierungen wird angemahnt. Die Aufmerksamkeit solle nicht wie bisher auf die Defizite eines Kindes gerichtet sein, sondern die individuellen Stärken und die im Umfeld liegenden Ressourcen seien vielmehr aufzudecken. "Vom Defizitkatalog zum Kompetenzinventar" überschreibt GOLL (1994) einen Artikel, in dem er ebenfalls entsprechende Veränderungen im diagnostischen Denken erläutert.
Die Diskussion darüber, ob es
in der Sonderpädagogik tatsächlich einen solchen Paradigmenwechsel
gibt oder nicht, soll an dieser Stelle nicht geführt werden, da sie
für den weiteren Gedankengang bedeutungslos ist. Der Verweis auf HILLENBRAND
(1999) soll ausreichen, der nach gründlicher Diskussion berechtigte
Zweifel an der Existenz eines Pradigmenwechsels in der Sonderpädagogik
hegt. Bei genauerer Betrachtung des diagnostischen Vorgehens zeigt sich,
daß der diagnostische Blick zwangsläufig gleichzeitig sowohl
auf Stärken als auch auf Schwächen fällt und das Können
und Nicht-Können gleichermaßen aufdeckt. Nach MÖCKEL (1997)
sind diagnostisch relevante Fragen immer Zwillingsfragen:
"Was weiß das Kind? Was weiß
es nicht?
Was macht es richtig? Was macht es falsch?"
(MÖCKEL 1997, S.120).
Hat eine Lehrkraft den Verdacht, daß
einer ihrer Schüler die im Unterricht besprochenen Rechtschreibregeln
nicht in ausreichendem Umfang beherrscht und aus diesem Grunde die Fehler
in dessen Diktat nach den entsprechenden Fehlerkategorien analysiert, findet
sie unter Umständen viele Verstöße gegen die Ableitungsregel
und damit eine nicht übersehbare Schwäche. Dies bedeutet jedoch
gleichzeitig, daß die anderen im Unterricht erarbeiteten Rechtschreibregeln,
nämlich die zur Groß- und Kleinschreibung oder die zur Dehnung
und Dopplung beherrscht werden und somit ein Können oder eine Stärke
darstellen. Pädagogisch-didaktisch relevant ist das Feststellen dieser
Stärke nur im Zusammenhang mit der Schwäche. Beides gemeinsam
bestimmt nämlich das sich an diese Diagnostik anschließende
Lehrangebot. Diese Lehrkraft wird bei ihrem künftigen Unterrichten
verstärkt auf die noch nicht beherrschte Rechtschreibregel eingehen
und weniger auf die bereits beherrschten abheben. Sie beachtet also bei
ihrem weiteren Lehren beides, die Stärke genauso wie die Schwäche.
Sie geht weder nur von der Schwäche aus, noch nur von der Stärke.
Möchte eine Lehrkraft herausfinden, wie gut ein Kind die Addition und Subtraktion beherrscht, um ihr weiteres unterrichtliches Vorgehen zu planen, wird sie ihm entsprechende Aufgaben mit zunehmendem Schwierigkeitsgrad vorlegen. Diese Lehrkraft findet das Ausmaß des Könnens nur, wenn sie den Schwierigkeitsgrad solange erhöht, bis der Punkt des Nicht-Könnens erreicht ist. Ihr weiteres pädagogisches Handeln wird genau an dem Punkt ansetzen, wo das Können des Kindes ins Nicht-Können übergeht.
Selbst bei der Diagnostik mittels
psychologischer Tests, die ja angeblich in besonderer Weise die Gefahr
der Defizitorientierung in sich bergen, läßt sich die gleichzeitige
Beachtung von Können und Nicht-Können nicht verhindern. Im Subtest
Rechnerisches Denken des Hamburg-Wechsler Intelligenztests für Kinder
werden einem Kind zum Beispiel mündlich Rechenaufgaben gegeben, die
es im Kopf ausrechnen soll. Für jede richtig gelöste Aufgabe
erhält es einen Punkt. Der Zahlenwert, der der Leistung des Kindes
zugeordnet wird, ergibt sich, indem die richtig gelösten Rechenaufgeben
zu den falsch oder nicht gelösten in Beziehung gesetzt werden. Auch
hier führt die gleichzeitige Berücksichtigung des Könnens
und Nicht-Könnens zur entsprechenden Kennzeichnung des Leistungsvermögens.
HEIMLICH (1998) fragt sich, wie aus beschriebenen Defiziten Fördermaßnahmen
abgeleitet werden können, da doch jede Förderung an vorhandenen
Kompetenzen ansetze und auf Fertigkeiten aufbaue. HAUSCHILDT (1999) stimmt
dem zu und verweist auf die praktische Vorgehensweise eines jeden Lehrers,
die immer von den Lernvoraussetzungen, also dem Können der Schüler
ausgeht. Selbstverständlich gibt es im Lehr-Lernprozeß nur die
Möglichkeit am aktuellen Leistungsstand anzuknüpfen. Es wäre
absurd, würde ein Lehrer mit seinem Lehren am Nicht-Können beginnen
wollen. Selbst wenn man versucht ein Defizit auszugleichen, beginnt die
Förderung zwangsläufig an den bereits erworbenen Kompetenzen.
Ein einfaches Beispiel macht dies sofort einsichtig. Ein siebenjähriger
Junge kann als einziger in der Klasse noch nicht Radfahren und möchte
dieses als Makel empfundene Nicht-Können überwinden. Einmal erscheint
es in diesem Fall als pädagogisch sinnvoll, dieses Defizit in den
Mittelpunkt der Förderung zu stellen und zum anderen wäre es
krotesk, würde man beim Erwerb des Radfahrens dem Kind ein Fahrrad
in die Hand geben und es über Tage hinweg immer wieder auffordern,
doch endlich zu fahren (So sähe vielleicht der absurde Versuch aus,
am Nicht-Können anzuknüpfen.) Jeder Pädagoge würde
dagegen versuchen, herauszufinden, in wieweit besagter Junge schon in der
Lage ist, das Gleichgewicht auf dem Fahrrad zu halten und unter welchen
Bedingungen ihm das nicht mehr gelingt. Auch hier ergibt sich der hilfreiche
Ansatzpunkt für das Lehren notwendigerweise an der Grenze zwischen
Können und Nicht-Können.
4 Zusammenfassung
Eine Diagnostik, die als umfassend bezeichnet werden kann, kennt nur eine "Untersuchungseinheit", und zwar das Kind in seiner spezifischen Lern- und Lebenswelt. In LEWIN's Begriffen ausgedrückt, ist das der Lebensraum, der aus psychologischer Person und psychologischer Umwelt besteht.
Eine umfassende Diagnostik ist gezwungen, ihren Blick immer gleichermaßen auf Stärken und Schwächen zu richten, und gelangt so zu Fördermaßnahmen, die zwangsläufig am Können ansetzen.
Die Frage, wann eine Diagnostik umfassend
genug ist, um brauchbare Hilfestellungen zum Überwinden von Lernhemmungen
anbieten zu können, läßt sich nur mit Hilfe der beschriebenen
Rückkopplungsprozesse im Rahmen einer hypothesengeleiteten Förderdiagnostik
beantworten. Der Erfolg der ergriffenen Fördermaßnahmen zeigt
das offensichtliche Ende des diagnostischen Suchens an.
Literatur